'Probieren wir das' – die Domkantorin Lydia Schimmer in der Stuttgarter Zeitung

Ein Porträt von Mirko Weber.

Ein Porträt von Mirko Weber.

„Lasst euch das bitte auf der Zunge zergehen“, sagt Lydia Schimmer in den Domchor hinein, und dann singt sie die nämliche Stelle, sich selbst am Flügel begleitend, noch einmal vor, im Stehen und mit gestrafften Schultern: „ . . . und er hat Lust zum Leben.“ Betonung auf Lust.
Auf dem Programm der Abendprobe in der Domsingschule an der Stuttgarter Landhausstraße steht Johann Hermann Scheins „Ihr Heiligen, lobsinget dem Herrn“, aus „Israels Brünnlein“, einer Sammlung von 26 geistlichen Madrigalen. Schein war, wie später Bach,Thomaskantor in Leipzig und neben Samuel Scheidt in Halle und Heinrich Schütz in Dresden Teil eines Triumvirats. Er gehörte zu den „drei großen Sch“ seiner Zeit. Im Übrigen waren sie historisch hintereinander weggeboren worden wie die Orgelpfeifen: 1585, 1586, 1587.
Lydia Schimmer, 34 Jahre alt, kann die Dinge von der historischen und musikwissenschaftlichen Seite bestens (und bestechend scharfsinnig) erklären, so dass ein mehr als solider Rahmen entsteht, aber Chorarbeit ist vor allem Detailgetüftel und das Bannen des rechten Ausdruckmoments: Hier ist ein Quintensprung, dort muss „ein bisschen mehr Wolke auf den Ton“, und schon ist dieselbe Stelle, nach freundlichen, aber bestimmten Ansagen, wieder dran: Alle noch mal Takt 26, dann nur der Sopran („Probieren wir das!„), und als man schon mehr als ein bisschen hört, wie das Ganze mal werden wird, nämlich sehr gut, sagt Lydia Schimmer das kleine Zauberwort: „Genau!“ „Genau“ beendet einen Probenabschnitt. „Genau“ ist Lob und höchste Anerkennung. „Genau“ bedeutet – kleine Generalpause.
Vor einem Jahr ist die Domkantorin Lydia Schimmer, gleichzeitig mit dem neuen Domkapellmeister Christian Weiherer, ins Amt eingeführt worden. Als Kirchenmusikerin hat es in Stuttgart noch keine Frau so weit gebracht.Dennoch fragen die Menschen in der Gemeinde – wenn sie was fragen, denn sie fragten eigentlich viel zu wenig, findet Lydia Schimmer – meistens nur, ob man „davon“ leben kann. Also vom Beruf. Um es vorwegzunehmen: Man kann, das heißt, Lydia Schimmer kann es. Und zu tun gibt es mehr als genug: 300 Sängerinnen und Sängerinnen warten; es gibt den Domchor, die Domkapelle, die Mädchenkantorei und die Schola Gregoriana. Nicht zuletzt gibt es auch noch eine Orgel (die hauptsächlich vom Domorganisten Johannes Mayr gespielt wird), aber auch hier haben sowohl Weiherer wie Schimmer ihre Ambitionen.
Wie man nun aber Domkantorin wird? Durch Singen, wodurch sonst? Kinderlieder und Volkslieder haben sie daheim gesungen bei Schimmers in Offenburg, wo Lydia mit drei Geschwistern, die alle nicht in der Musikwelt gelandet sind, aufwächst, „sehr behütet“, sagt sie. Es ist ein Theologenhaushalt, der Vater
Pastoralreferent, die Mutter eine ambitionierte Flötenspielerin, das prägt. Schulchor, Musikgymnasium, Preisträgerin bei „Jugend musiziert“: Lydia Schimmer kann die Stationen aufzählen, wie man Perlen auf eine Schnur reiht. Wobei es schon sie selber war, die unbedingt ans Klavier wollte. Die Mutter nimmt sie mit in den Kirchenchor, da ist die Tochter elf Jahre. Die Leiterin stellt ihr die Orgel vor und ermuntert sie, eine Messe zu spielen, und da hat dann irgendetwas bei Lydia Schimmer besonders geläutet: „Das wollte ich können – und ich war sehr ehrgeizig.“ Kleine Pause. „Ehrgeizig und schüchtern!“
Und das geht zusammen? Na ja, „es geht so“, sagt Schimmer, die sich heute eingestehen kann, dass Musik zwar früh ihr genuines Ausdrucksmittel war, sie aber andererseits im Folgenden nicht immer auf die Verhältnismäßigkeit dieses Mittels in Beziehung zum Leben achtgegeben hat.
Zunächst aber nehmen die Dinge ihren Lauf: Früh macht sie die C-Prüfung für Orgel, auf deren Grundlage man dann in kleinerem Rahmen schon Gottesdienste gestalten und einen Chor leiten kann. Sie geht zum Vorstudium nach Freiburg und zum Hauptstudium nach Stuttgart, protestantische Hochburg und, wenn man so will, Orgelhauptstadt im Lande. Später hätte es länger Paris sein können, es wird dann nur ein Jahr, doch die Beziehungen und vor allem die Sehnsucht nach „französischen Farben“ sind geblieben. Im nächsten Jahr spielt Lydia Schimmer ein Konzert in der Kathedrale Notre Dame an jener Orgel, der schon Armand Louis Couperin, Louis Vierne und Yves Devernay dienten. Oder umgedreht. Fixsterne.
Frankreich, wo die Kirche und der Staat strikt getrennt sind, war eine enorme Erfahrung für Lydia Schimmer, die aber auch registrierte, was sie an Deutschland und dessen Südwesten zumal wieder haben würde: „Mehr kreative Liturgie und kirchenmusikalische Offenheit.“ Im Jahr 2011 beendet Schimmer ihr Studium in Stuttgart. Mit Bestnoten im Hauptfach Orgel, in Kirchenmusik und Instrumentalpädagogik, von heute aus gesehen aber auch mit dem Defizit, dass sie eigentlich nur für die Musik gelebt hatte, während die meisten anderen Aspekte des Daseins Pause machten. „In der Stadt unterwegs, außer schon mal bei Konzerten“, sagt sie, „bin ich fast nie gewesen.“
In Villingen übernimmt sie eine Elternvertretung, hat da mehr Musikgruppen als heute in Stuttgart und fühlt sich wohl. Dennoch bleibt es bei einem halben Jahr im Amt. Anschließend wird sie Kantorin in der – wie das formell heißt – Seelsorgeeinheit Nördlicher Kaiserstuhl, Dienstsitz ist Endingen. Das ist zwar so weit nicht entfernt von Schimmers heimatlicher Gegend, wirkt auf die junge Frau aber anfangs mehr wie eine Szenerie aus „Der Landärztin“, einem 50er-Jahre-Heimatfilm mit Marianne Koch und Rudolf Prack. „Die waren gegenüber Fremden zunächst sehr abwehrend“, sagt Schimmer. „Und eine Frau waren sie gleich gar nicht gewohnt . . . das war schwer für mich, aber ich habe gedacht: Ich muss sie begeistern.“ Wer fünf Minuten unter Lydia Schimmer probt, wäre normalerweise angesteckt, aber es hat dann ein paar Monate gedauert, im Südbadischen.
Einfacher sei sie geworden, dort unten, erzählt Lydia Schimmer. Strukturierter, klarer, auch geduldiger. Endingen war eine gute Schule, die auch konterkariert hat, was man an der Musikhochschule lernt: „Man wird auf den feinsten Triller von Bach abgerichtet“, hat Schimmer erkannt – auf leichte gesellschaftliche
Grobheiten eher nicht. Am Ende hat vor Ort der Austausch gefehlt, ein paar Freunde, die nicht ebenfalls Musiker sind, und Lydia Schimmer wollte auch wieder mehr Orgel spielen auf hohem Niveau.
Stuttgart, die Zweite, also, und die Erwartungen waren nicht gering: „Lydia Schimmer“, hatte der Stadtdekan Christian Hermes formuliert, als die Wahl auf Schimmer gefallen war, „hat uns nicht nur durch ihr musikalisches Können überzeugt, sondern auch durch ihre konzentrierte und zugewandte Art zu  proben.“ Dabei ist es geblieben, wiewohl sich im Alltag herausgestellt hat, dass die Stuttgarter Domkirche unter der Woche und am Sonntag nun mal nicht so voll ist wie in Endingen. „Man lebt auch in starker Konkurrenz zur Stiftskirche, klar“, sagt Lydia Schimmer, die im Sommer mit einem inhaltlich vorbildlich konstruierten Konzert begonnen hat, dessen Mittelpunkt Leonard Bernsteins „Chichester Psalms“  darstellten, hebräisch gesungen. Orgel, Schlagzeug und Harfe leben in einer gewagten Kombination. Der Chor improvisierte über die Gregorianik, John Cage kam vor, und Bach und Mendelssohn-Bartholdy ergänzten sich gegenseitig. Es war, alles in allem, ein großartiger Spätnachmittag, aber die öffentliche Resonanz war gleichwohl nur mittelmäßig. Nicht erst seitdem haben Lydia Schimmer und ihre Kollegen das verschärfte Nachdenken darüber aufgenommen, wie sich die Musikabteilung von St. Eberhard vielleicht ein wenig besser vermarkten könnte. Die endgültigen Konzepte für eine mit (spiritueller) Musik nicht unterversorgte Stadt wie Stuttgart sind noch nicht beschlossen, aber zumindest bleibt es fürs Erste dabei, dass die Programme auf jeden Fall ein wenig jenseits des kirchenmusikalisch Gängigen entworfen werden sollen: Am ersten Advent zum Beispiel trifft in der Domkirche St. Eberhard Johannes Brahms auf Motetten von Johann Gabriel Rheinsberger. Nebenbei: Privat hat Lydia Schimmer dafür gesorgt, dass es mit der Musik im Prinzip nie aufhört. Im Heusteigviertel wohnt sie zusammen mit ihrem Mann, der ebenfalls von Haus aus Organist ist. Gott sei Dank haben sie daheim zwei Orgeln.

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